Oktober 2024
Hallo liebe Yogafreunde,
der Sommer neigt sich auch dieses Jahr seinem Ende entgegen. Unaufhaltsam dreht sich die Erde, die Sonne geht – aus unserer Sicht – jeden Tag auf und wieder unter. Wie tröstlich in Zeiten, wo vieles sich verändern möchte, verändern muss, verändern will. Es gibt Dinge, die gleich zu bleiben scheinen. Es gibt Dinge, die Stabilität vermitteln. Manche dieser Dinge finden wir im Aussen – wie z.B. den Lauf der Sonne, die Beständigkeit der Erde, die wiederkehrenden Jahreszyklen usw...
Manche dieser stabilisierenden Faktoren können wir aber nur in unserem Inneren finden. Meist müssen wir lernen und üben, uns in verschiedenen Situationen selbst stabil zu halten oder uns wieder aufzufangen, wenn wir grade ins Taumeln geraten sind auf unserem Lebensweg.
Für mich, und vielleicht auch für dich, ist die Yogapraxis, das Atmen, die vertrauten Bewegungen und die Meditationen ein sehr wertvoller Teil meiner Stabilisierungsmöglichkeiten, meiner Selbstwirksamkeit. Die habe ich dieses Jahr gut gebrauchen können.
Ausgelöst durch die Ereignisse in meinem Leben, hat mich ein Text besonders berührt. Es überrascht dich vielleicht nicht, dass er von dem Verhältnis zwischen Eltern und ihren erwachsenen Kindern handelt.
Nicht alle von uns sind Eltern – aber jeder von uns ist Tochter oder Sohn.
Der Text stammt von Nick Cave, einem australischen Musiker, dem das Leben wirklich nichts geschenkt hat. Seine Musik ist für mich zwar schwer zugänglich, doch seine Texte und die Intensität seiner Songs und deren Interpretationen beeindrucken mich sehr. Dieser Nick Cave beantwortet auf seiner Homepage «red hand files» persönliche (Lebens-)Fragen seiner Zuhörer. Wie ich finde auf sehr nahbare und berührende Art und Weise.
Die folgende kleine Konversation möchte ich mit dir teilen...
Es ist eine Übersetzung aus dem Englischen und wirkt deshalb zum Teil vielleicht etwas umständlich. Meine Übersetzerin meinte, es sei sehr poetisch formuliert und gar nicht so leicht zu übersetzen gewesen. Ich finde aber, dass die Essenz dennoch gut spürbar ist.
Frage:
Wie kann man mit Freude im Leben voranschreiten, wenn man seinen Eltern, den Menschen, die einen großgezogen und geliebt haben, entwachsen ist? Wenn deine Eltern nun beinahe beleidigt scheinen von deinem Wachstum. Als wäre es eine Kritik an sie, dass du andere Werte hast. Sie sind blind vor Unwissenheit und schwelgen geradezu darin. Sie sind wütend auf die Menschen, die anders sind als sie, verbittert über die Welt und ihr sich veränderndes Gesicht und versuchen, dich zurückzuziehen, dich in ihrer Weltanschauung zu halten. Als ob Wut und Groll jemals siegen könnten.
Jason, London, UK
Antwort:
Lieber Jason,
Eines der bleibenden Privilegien fortgeschrittener Elternschaft ist, dass man endlich jeden Versuch aufgeben kann, den unmöglichen Standards gerecht zu werden, die unsere Kinder setzen. Stattdessen lehnen wir uns zurück und verfallen ohne Reue dem «Älter-werden». Wir verstehen, dass wir sind, was wir sind, und hoffen, dass unsere Kinder zu etwas besseren Versionen unserer selbst heranwachsen. Wir haben das Gefühl, dass wir unseren Teil zur Verbesserung der Welt beigetragen haben, und beten, dass unsere Kinder dies auch weiterhin tun werden. Wir hoffen auch, dass wir unsere Kinder stark genug erzogen haben, um der generationenübergreifenden Verachtung standzuhalten, die ihnen mit ziemlicher Sicherheit entgegenschlagen wird, wenn sie selbst Kinder haben.
Wir «Älteren» sind meist zufrieden damit, zu sehen, wie die Welt in Richtung einer toleranteren, integrativeren und barmherzigeren Version ihrer selbst stolpert. Aber wir wollen auch, dass sie weniger urteilend und selbstgerecht wird. Wir beten, dass dies der Fall ist, während wir in den Handlungen und Meinungen unserer Kinder nach Anzeichen für eine bessere Welt suchen. Wenn einer meiner Söhne mich dafür kritisiert, dass ich eine Ansicht vertrete, die ein wenig unangebracht oder weniger fortschrittlich ist, als er es gerne hätte, bin ich in gewisser Weise ermutigt, dies als Beweis dafür zu sehen, dass sich die Welt in eine positivere Richtung bewegt – auch wenn ich ihn bitten würde, etwas Demut zu üben und nicht so selbstgerecht zu sein.
Mein Rat an dich, Jason, ist, deine Eltern mit etwas mehr Verständnis und Mitgefühl zu betrachten. Sei tatsächlich glücklich über diese Möglichkeit! Sie sind schließlich deine Eltern. Versuche, sie als das zu sehen, was sie sind: Spiegelbilder deines zukünftigen Ichs – verloren in einer fremden und neuen Welt, die um sie herum aufgebaut wurde, so wie du eines Tages in der Welt verloren sein wirst, die sich in genau diesem Moment unergründlich um dich herum entfaltet. Mein Vorschlag ist, deine schreckliche, feindselige, ignorante, verängstigte menschliche Mutter zu umarmen. Wenn es dir die Tat angenehmer macht, denke daran, dass du im Grunde dein zukünftiges Ich umarmst, so wie sie das umarmt, was sie einmal war. Wenn du das getan hast, gib ihr noch eine Umarmung von mir. Es klingt, als könnte sie es gebrauchen.
Alles Liebe, Nick
Mich hat in Nick Caves Antwort sehr berührt, wie er beschreibt, dass die Welt sich unergründlich um uns entfaltet und wir sie mit zunehmendem Alter nicht mehr ganz verstehen. Er beschreibt es als einen Prozess, mit dem wir vielleicht auch einverstanden sein können und mit einer gewissen Neugierde und Hoffnung beobachten dürfen, was die kommenden Generationen (die ja bereits da sind und mitgestalten) für sich als Prioritäten setzen.
Längst nicht alles, was sich zur Zeit als modern und in und «easy» darstellt entspricht meinen Werten. Es gibt Entwicklungen in unserer Gesellschaft, die beobachte ich mit Erstaunen, zuweilen einem gewissen inneren Widerstand. Mich beschleichen oft Zweifel, ob wir als Gesellschaft auf dem richtigen Weg sind und die passenden Mittel für die Veränderung anwenden. Doch wer bin ich schon? Schliesslich sind meine Werte ja nicht dieselben wie deine, oder die von irgendjemand anderem. Was ICH mir für die Welt wünsche, für die Kinder der heutigen Zeit, die Wirtschaft, die Politik und die Lebensqualität der Menschen im Allgemeinen, ist nur MEIN Wunsch, geboren aus meinem Weltbild und meiner Geschichte.
Zunehmend wird die Welt jedoch von Menschen gestaltet, die 20 Jahre jünger sind als ich und ich finde, das ist genau richtig so! Denn es ist die Welt in der SIE leben und alt werden dürfen. Auch wenn ich, wie Nick Cave, der Meinung bin, dass jede Generation von der anderen lernen könnte, wenn sie wollte...
Für mich wünsche ich mir einfach, dass ich meine Meinungen und fixen Vorstellungen immer wieder hinterfragen und allenfalls revidieren kann. Dass ich immer wieder bereit bin wirklich hinzuhören – vor allem bei den jüngeren Leuten. Ich möchte neugierig bleiben, um mitzuerleben, was sich da um mich entfaltet. Ich glaube, dass das manches Mal ganz schön herausfordernd sein wird. Aber hey – so bleibe ich geistig beweglich und lebendig. Du weißt ja, nach der Yogaphilosophie ist das Leben immer im Fluss...
Wie geht es dir damit?
Gehörst du zu «den Jungen» oder bereits zur «reiferen Garde»? Ich finde, dass der Text von Nick Cave für beide Lebensphasen etwas zu sagen hat, worüber es sich nachzudenken lohnt.
Nun wünsche ich dir und all deinen Liebsten einen hoffentlich goldenen Herbst.
Ich freue mich auf unser 4. Quartal. Das Lichter- und Weihnachtsquartal.
Danke, dass du meine Stunden besuchst und schätzt und unseren Yogaraum mit deiner ganz eigenen Präsenz erfüllst und bereicherst.
Herzlichst
Claudia
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